WER SPIELT MIT UNS?

WER SPIELT MIT UNS?

Mayers Enzyklopädisches Lexikon erklärt Spiel als „Tätigkeit (von Tier und Mensch) , die ohne bewußten Zweck, aus Vergnügen an der Tätigkeit als solcher bzw. an ihrem Gelingen vollzogen wird. Das Spiel des Menschen wird als ein durch unterschiedlichste Faktoren bestimmtes Verhalten verstanden, das im Wechselverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft eine wesentliche Vermittlerrolle einnimmt […].“

 

Was steht auf dem Spiel? Wer spielt mit uns?, Wer spielt mit? Welche Rolle spielt die Kunst, welchen Regeln gehorcht sie?

Das Spektrum spannt sich von einem Verständnis von Spiel als Beispiel für die kreative Auseinandersetzung mit der Welt, darin der Homo ludens seine kulturellen und persönlichen Fähigkeiten entwickelt, über die Bedeutung des Ästhetischen und Spielerischen als Gegenpol zur instrumentellen Vernunft, wie etwa Marcuse den Begriff mit Freiheit assoziiert und damit politisch gedeutet hat, bis zu dem Spiel mit und um die Realität; von der Ausbeutung von Spiele spielenden Spielern1 bis hin zu jenen Formen von Propaganda, politischer Agitation, Manipulation und gezielter Desinformation, die, indem sie ihre Spiele mit der Realität treiben, sich diese sukzessive als Spieleumgebung anverwandeln. (Der Begriff Global Player erhält darin eine weitere Dimension.) Der Schaden, den Demokratie daran nimmt – wie kein anderes politisches System auf die weitgehende Übereinkunft derer, die sie mit Leben erfüllen, über die Realität, in der sie gelebt wird, angewiesen – schädigt zuallererst die Gemeinschaft, die sie organisiert.

Ein Schwerpunktinteresse ergibt sich daraus nachgerade zwangsläufig: Die sukzessive Auflösung jener gesamtgesellschaftlichen Sicht der Dinge, wie sie in Kultur diffundieren konnte, zugunsten einer „Immersion“ möglicher Wahrheiten durch Manipulation, Infiltration, Indoktrination … und Partikularisierung der Vorstellungen vom Realen. Diese Entwicklung erscheint wie die Radikalisierung dessen, was Foucault mit der jeweiligen Wahrheitsproduktion von Gesellschaften angesprochen hat, in der Loslösung von der Gesellschaft. Zuletzt noch mehr oder weniger von einer kollektivierenden Überzeugung getragen und geformt, wird die paradigmatischen Produktion von „Wahrheit“, an der immer auch demokratische Prozesse beteiligt waren, durch die Setzung von Wahrheiten, durch Partikularisierung, Atomisierung und zugunsten „alternativer Fakten“ ersetzt.

Während das Allgemeingültige, das Faktische und das Reale immer schwerer greifbar werden, werden das Illusionäre und Imaginäre hingegen leichter verfügbar – „Realität“ entmaterialisiert sich angesichts der Dominanz des Virtuellen. Und nicht zuletzt schaffen KI-Systeme neue Realitäten in einer materiell wirksamen Virtualität. Es läuft alles auf eine Umwelt hinaus, in der Regeln wirksam werden, wie sie lange nur für Spielewelten und -erzählungen charakteristisch waren und mittlerweile nicht nur politisch bedenkliche, sondern längst auch psychodynamische, heißt psychiatrisch relevante Folgen zeitigen.

Dass Künstler:innen vielfach an Spielen orientierte Strategien zur Erkundung von Verhältnissen erproben, die sich jenen in einer Spielewelt anzugleichen scheinen, ist naheliegend.

Ein weiteres Themenfeld betrifft die Manipulation der Nutzer:innen aktueller Technologien – beispielsweise durch Ermüdung und Nudging. Ermüdung durch Überforderung von der schieren Menge an Innovationen, Optionen und Updates, vor denen der Einzelne resigniert und es aufgibt, sich mit Funktionen und Wirkweisen von Technologie(n) auseinanderzusetzen – Voraussetzung dafür, die vorgegebenen Spiel-Regeln der jeweiligen Produkte hinzunehmen und letztlich selbst zum Produkt, zum Spielball zu werden. (Geht es bei Anwendungen à la TikTok oder BeReal zumindest scheinbar „nur um Unterhaltung“, so steht etwa der Zwang zur Digitalisierung im Bankensektor mittlerweile im Europäischen Parlament soweit zur Disposition, als die Möglichkeit der analogen Lösung auf gesetzlicher Ebene eingefordert werden soll.) Nudging vielfach im Interesse großer Tech-Konzerne, ihre Klientel in politisch und weltanschaulich extreme Richtungen zu manövrieren.

 

Johan Huizinga hat in seinem Buch Homo ludens Spiel als eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung definiert, „die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘“. Kunst, die immer (bis in die letzten Versuche ihrer Selbstauflösung hinein) pour l'art bleibt und außerhalb ihrer selbst wenig mehr als ästhetische Erkenntnis, allenfalls Spielarten des Vergnügens produziert, ist in ihrem Innersten dem Spiel verwandt. Kunst benötigt für ihre „immersiven“ Dramen einen realen Hintergrund, von dem sie sich abheben können. So gesehen steht sie in Konkurrenz zu einer Welt, die tendenziell eine Verwandlung in ein Kunstwerk vollzieht – primär dadurch, dass auf Kosten der Übereinkunft über das „Reale“ dienstbare Realitäten entstehen.

 

Aus dieser natürlichen Konkurrenzsituation beziehen künstlerische Positionen jene strukturellen Grundlagen, die sich die konkreten Hervorbringungen in der Rezeption als einen verbindlichen Denkansatz teilen. Der Hintergrund, dem sie ihre Sichtbarkeit (Relevanz, Zeitgenossenschaft) verdanken, ist impliziter Gegenstand ihrer Erscheinungsformen.

 

Kunst unter dem Gesichtspunkt des Spiels zu sehen, fordert dazu heraus, die Welt, auf die sie sich bezieht, unter denselben Gesichtspunkten zu betrachten.

1Beispielsweise durch Mikrotransaktionen und Lootboxen (virtuelle Objekte, deren Inhalte spielrelevant sind und in letzter Konsequenz mit Echtgeld gekauft werden können, ohne tatsächlich einen realen Gegenwert zu erhalten).